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Sozialleistungen trotz Freiheitsstrafe? Ja, sagt das Hessische Landessozialgericht

Das Hessische Landessozialgericht hat am 11. November 2024 (L 4 SO 45/23) über die Frage entschieden, ob eine aufgrund einer Freiheitsstrafe inhaftierte Person neben dem von der Justizvollzugsanstalt gezahlten Taschengeld Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII hat. Der Kläger machte einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung und Hygieneartikel geltend. Das Gericht bejahte den Anspruch. Es bestehe ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt, da das von der JVA gezahlte Taschengeld den notwendigen Bedarf nicht decke.

Der Rechtsexperte Dr. Manfred Hammel kommentiert das Urteil in der aktuellen Ausgabe des Informationsdienstes Straffälligenhilfe. Wir haben kurz nachgefragt:

BAG-S: Sehr geehrter Herr Dr. Hammel, wie begründet das Gericht seine Entscheidung, dass auch während einer Freiheitsstrafe ein Anspruch auf Sozialleistungen besteht?

Dr. Hammel: Das LSG Hessen ist – wie jedes andere Sozialgericht auch – an die bereits vom Bundesverwaltungsgericht vor 50 Jahren entwickelte und vom Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung nach 2005 übernommene Auffassung gebunden, dass eine Inhaftierung als solche prinzipiell nicht der Gewährung von Leistungen der Sozialhilfe (SGB XII) entgegen steht. Von maßgebender Bedeutung ist hier stets die „Besonderheit des Einzelfalls“ im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB XII. Das Sozialhilferecht erfährt eine deutliche Prägung durch den Grundsatz der individualisierenden Bedarfsdeckung. Auch bei inhaftierten Personen kann es durchaus sein, dass nur über die Gewährung von Leistungen der Sozialhilfe die Führung eines Lebens gesichert wird, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 Satz 1 SGB XII).

BAG-S: Haben alle inhaftierten Personen, die von der JVA Taschengeld erhalten, Anspruch auf Sozialleistungen?

Dr. Hammel: Ob und in welchem Umfang inhaftierte Personen einen Anspruch auf einen „notwendigen Lebensunterhalt in Einrichtungen“ (§ 27b SGB XII) geltend machen können, hängt in erster Linie von den konkreten Lebensumständen von Angehörigen dieser Klientel ab. Es gab z. B. Verwaltungs- und Sozialgerichte, die auf einen höheren Barbetrag erkannten, als dies die Sozialhilfeträger anzuerkennen bereit waren, weil die Antragstellerinnen und Antragsteller darauf verweisen konnten, dass der einzige von der JVA zugelassene Anbieter von Waren ein äußerst hohes Preisniveau festgesetzt hat. Jede inhaftierte Person, die von der JVA ein sog. Taschengeld erhält, kann nur dann um eine Aufstockung dieses Betrags aus Sozialhilfemitteln nachsuchen, die erwiesenermaßen mit diesem Geld der Justiz ihr Existenzminimum nicht sichern kann. Dies hat aber stets die um eine Unterstützung durch die öffentliche Fürsorge begehrende Person im Einzelnen nachzuweisen.

BAG-S: Wenn das Landessozialgericht feststellt, dass der Inhaftierte einen Anspruch auf einen Barbetrag in analoger Anwendung des § 27b SGB XII hat, müsste dann nicht auch die Justizverwaltung das Taschengeld entsprechend erhöhen?

Dr. Hammel: Die Landesjustizverwaltungen unterliegen nicht der Verpflichtung, die Rechtsprechung der Sozialgerichte zur Gewährung von Leistungen nach § 27b SGB XII bei inhaftierten Personen in der Weise zu berücksichtigen, dass das Strafvollzugsrecht in entsprechender Weise geändert wird. Selbstverständlich wäre ein solcher Schritt dringend geboten, aber so lange dies unterbleibt, sind inhaftierte Personen darauf verwiesen, um aufstockende Leistungen nach dem SGB XII nachzusuchen, solange die Justiz nicht ihr Existenzminimum voll und ganz sichert.

BAG-S: Vielen Dank, Herr Dr. Hammel!

 

Die ausführlichen Kommentierung finden Sie in der aktuellen Ausgabe des Informationsdienstes Straffälligenhilfe.

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